log in

„Korridorium“ – ein literarischer Blog

Korridorium als Buchausgabe Cory D'Or Korridorium als Buchausgabe

Korridorium – das ist der Name eines literarischen Blogs: ein Kosmos aus episodischen, zugleich zusammenhängenden Geschichten. Rätselhaft und geheimnisvoll.

Korridorium – das ist der Name eines Blogs, genauer: eines literarischen Blogs. Aber so viel genauer ist das gar nicht. Korridorium ist viel mehr als das. Es ist ein Kosmos aus Geschichten von variierender Länge. Die Selbstbeschreibung des Mediums: „1x täglich Kurzprosa mit Soundtrack vom 11/11/11 bis 12/12/12“.

Alle Geschichten auf korridorium.de sind mit einem Flashplayer versehen, der den Soundtrack zum Lesen bereithält. Ein geniales Prinzip, das der Blogger oder die Bloggerin mit dem offensichtlichen Pseudonym Cory d‘Or (wie ‚Korridor‘) dem Film entliehen hat: Die Musik von Tychonian Soundworks verstärkt die emotionale Wirkung der Texte und eröffnet im Zusammenspiel mit diesen neue Bedeutungsräume, die ich literaturwissenschaftlich kaum zu erfassen wage.

Nicht allein durch diese nach meinem Kenntnisstand innovative Idee ist Korridorium untrennbar mit der digitalen Welt verknüpft. Auch die Eigenschaften des Hypertextes macht sich Cory d‘Or zunutze und streut Links in die Sätze der Geschichten, die wiederum auf andere Korridorium-Texte verweisen und den Ausdeutungen auf diese Weise neue Pfade legen (Denn es stellt sich doch die Frage: Warum diese Verweise und nach welchem Schema?). Wie für Blogs typisch sind allen Texten Stichworte (engl. Tags) zugeordnet, nach denen man sie gruppieren kann, etwa nach den Tags ‚Fantasy‘ oder ‚Sci-Fi‘. Thematische Kategorien gibt es auch, allerdings auf den ersten Blick mit uneindeutigen Namen, ebenso wie eine Tagcloud.

Zwar sind die 398 Einträge nummeriert und in Blogmanier der Reihe nach lesbar, doch die Techniken des Internets, in die Literatur übertragen, ermöglichen einen völlig individuellen Lesefluss und unzählige Zugänge zu dem Textkorpus. Das ist insofern etwas Besonderes, als literarische Werke aufgrund der Linearität von Sprache in der Regel von vorne nach hinten gelesen werden müssen. Sprachliche Linearität meint, dass zwei Ereignisse, selbst wenn sie gleichzeitig geschehen, immer nur nacheinander erzählt werden können. Das ist in virtuellen Welten meist grundlegend anders. Man denke an die Elder-Scrolls-Rollenspiele, die alles andere als linear sind. Die Texte des Korridoriums, einfach nur als Korridore bezeichnet, können Linearität im Einzelnen auch nicht ausweichen, aber in der Gesamtheit gibt es keine lineare Gesamthandlung mehr, zumindest keine offensichtliche, die ohne ein Zutun des Lesers am Nacheinander des Textes erkennbar wäre. Trotz aller Nicht-Linearität scheinen alle Korridore irgendwie miteinander verbunden. Der Eindruck eines zusammengehörigen und in sich geschlossenen Gesamtwerks entsteht durchaus, vielleicht auch nur durch die einheitliche Form (siehe unten).

Korridorium wird so zu einem ‚echten‘ Vertreter der Netzliteratur, der ohne die Multimedialität und Interaktivität des Mediums nicht funktionieren würde (allerhöchstens in den modernsten Ebooks). In Papierform ist Korridorium daher nur auf Umwegen zu denken, wenn überhaupt. Der ‚Blog‘ fordert die Interaktivität des Lesers ein, indem er keine sich stetig fortsetzende Geschichte erzählt, sondern kurze episodenartige Erzählungen (die in irgendeiner Weise wiederum zusammenhängen). Meist ist es ein Ich-Erzähler, der die Texte mit dem charakteristischen Satz „Ich betrete den Korridor“ beginnt. Einige davon fordern den Leser intellektuell, andere sind sehr eingängig. Wichtige Schlagworte werden nach Textende wiederaufgegriffen: Hier führen Links zu Erklärungen dieser Begriffe, sodass dem Leser, der nicht sofort weiß, worauf angespielt wird, Bedeutungsschnipsel geboten werden.

Durch den Titel Korridorium und dem immer gleichen Anfangssatz macht der ‚Blog‘ auf mich den Eindruck einer Matrix aus Korridoren, durch die meist ein Ich in immer neue Rollen, Situationen und Welten eintaucht. Inwieweit das aber ein Zusatz meines vorläufigen Verstehens ist, ein Zusatz, den die Texte nahelegen mögen oder vielleicht auch gar nicht hergeben, kann ich nicht sagen. Dafür fehlt mir der Überblick. Vielmehr habe ich mich wie der Ich-Erzähler in den Korridoren verlaufen und immer neue Türen zu neuen Texten und neuen Musikstücken aufgestoßen, um mich von den Bedeutungen und Deutungen umspielen zu lassen. Und ich vermute, das ist auch das Ziel dieses Blogs: dass der Leser eintaucht in den Textkosmos, egal wo und wie, Hauptsache eintauchen und lesen.

Uneindeutigkeit und Rätselhaftigkeit sind Teil dieser Textwelt. Sie fordern dazu auf, den Sinn aktiv zu suchen. Diese These mag banal klingen, ist aber wichtig zu nennen. Gerade im Internet gilt das Ermöglichen von schnellem Verstehen als Tugend, damit die Inhalte die Leser erreichen und diese nicht frühzeitig abspringen. Die Masse an Inhalten macht es leicht, dem zunächst Unzugänglichen auszuweichen, es sogar als handwerklichen Fehler zu deklarieren. Wo Korridorium Techniken des Internets übernimmt und neue literarische Wege beschreitet, bewahrt es sich auch Eigenschaften der anspruchsvollen Literatur aus der Papierwelt. Das Geheimnis gehört zum Korridorium dazu und steigert seinen ästhetischen Wert. Es liegt am Leser, es zu lüften.

Ich kann Korridorium nur empfehlen und jedem ans Herz legen, der Literatur mag und einen Sinn für die komplexeren Vertreter dieses Mediums hat. Nehmt euch die Zeit und lest in den Blog hinein, schnappt euch die kurzen Texte, wenn ihr wenig Zeit habt. Denn die Chance dazu bleibt nicht mehr lange erhalten. Im krassen Gegensatz zur gefühlten Ewigkeit, die ein jeder Text mit seiner Veröffentlichung im Internet zu erlangen scheint, soll der letzte Text im Korridorium am 12. Dezember 2012 erscheinen und das gesamte Werk am 21. Dezember offline gehen. Ob das mit dem angeblichen Weltuntergangstag des Maya-Kalenders zu tun hat, kann man nur vermuten.

Letzte Änderung amMittwoch, 18 August 2021 08:58
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Ich habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zerkaut! Ich habe gedacht, bis mir der Speichel floß. Ich war logisch bis zum Koterbrechen. Und als sich der Nebel verzogen hatte, was war dann alles? Worte und das Gehirn.“

Gottfried Benn

 

Cookie-Einstellungen