Logo
Diese Seite drucken

„Formen des Fantastischen“, ein Aufsatz von Lutz Rühling – Teil 1

Das diesjährige Fantasy Filmfest beginnt heute Abend. Da möchte ich wieder einmal der Frage nachgehen, was Fantastik eigentlich ist. Dazu werde ich diesmal in aller Kürze den Aufsatz Formen des Fantastischen von Lutz Rühling vorstellen, der zunächst das Fantastische definiert und unter anderem in die Untergruppen Integrative, Desintegrative und Transzendentale Fantastik sowie Neofantastik einteilt. Der Aufsatz setzt sich ausschließlich mit literarischer Fantastik auseinander, lässt sich aber sicherlich mit Anpassungen auch auf andere Medien übertragen - Teil 1: Die Definition des Fantastischen.

Das Fantastische als Verstoß gegen die Naturgesetze

Die Definition des Fantastischen ist eine komplexe Sache und entsprechend umfangreich von Rühling dargestellt. Vereinfacht kann hier gesagt werden, dass der Forscher fantastische Texte daran erkennen will, dass in diesen ein paranormales Ereignis, Objekt oder Wesen vorkommt. Das Paranormale entsteht dem Forscher zufolge durch den Bruch von Basisannahmen des modernen Menschen über die Welt, wie zum Beispiel den Naturgesetzen. Ein Geist oder Vampir etwa ist nicht mit diesen zu erklären und daher ein Verstoß gegen die Gesetze der Natur.

Ein besonderer Verdienst dieser Arbeit ist, wie ich finde, dass dort jede Fantastik-Definition, die sich auf das Paranormale gründet, als epistemisch begriffen wird. Epistemisch bedeutet, dass die Bestimmung des Paranormalen von dem Wissen und Glauben zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängig ist. Die Menschheitsgeschichte belegt, dass sich derartige Vorstellungen stetig wandeln.

Die Macht des Zufalls: der Pakt zwischen Leser und Autor

Historische Texte der Fantastik erfordern daher etwas, das Rühling den epistemischen Pakt nennt. Dieser Pakt besagt, dass Leser und Autor des Textes darin übereinstimmen müssen, dass das dargestellte Paranormale auch als solches zu verstehen ist. Ein mittelalterlicher Autor zum Beispiel würde gewisse Darstellungen nicht als paranormal, sondern als natürliche Vorgänge begreifen, anders als wir heute. Dementsprechend würden mittelalterliche Sagen nicht zur Fantastik zählen, obwohl darin aus heutiger Sicht Paranormales geschildert wird. Wenn Leser und Autor der gleichen Ansicht sind, so Rühling, sei das ein historischer Zufall.

Genau genommen, bezieht der Forscher den Pakt nicht auf den realen Autor, sondern auf den sogenannten impliziten Autor. Dieser unterscheidet sich vom realen insofern, als dass er ein Hilfsmittel ist, das sich Literaturwissenschaftler hinzudenken. Denn der reale Autor kann im Grunde über das Paranormale gedacht haben, was er will, ohne dass diese Ansichten in den Text mit eingeflossen sein müssen. Vielmehr könnte er aus unzähligen Gründen so geschrieben haben, als erachte er das Paranormale als durchaus möglich, während er es im wahren Leben nie so gehalten hat. Der implizite Autor dagegen lässt sich aus dem Text rekonstruieren und stellt den Idealautor für diesen dar. Erweckt ein Text also den Eindruck, der Autor wolle das Paranormale nicht als real darstellen, so bezieht sich dieser Eindruck auf den impliziten Autor. Denn, was der reale Autor gedacht hat, lässt sich nur schwer rekonstruieren, vor allem für historische Texte, deren Verfasser schon vor langer Zeit verstorben sind.

In Teil 2 geht es weiter mit den Formen des Fantastischen.

 

Literaturverweis

Lutz Rühling: Formen des Fantastischen. In: Verschränkungen der Kulturen. Hg. von Oskar Bandle u. a. Tübingen/Basel 2004, S. 411-443.

Letzte Änderung amFreitag, 18 August 2017 17:04
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

© 2007 - 2022 Mellowdramatix – Fachmagazin & Blog für Phantastik, Horror, Science-Fiction