log in

Romane

„1984.4“ – Der kleine Bruder von Orwells Dystopie

Cover (Ausschnitt) Rowohlt Verlage Cover (Ausschnitt)

Philip Kerr wählt mit George Orwells Kultklassiker 1984 ein Referenzwerk, gegen das sein Roman blass aussieht. Dennoch finden sich gute Ansätze darin. 

Rezension

Was einst Großbritannien gewesen war, ist im Jahr 2034.4 eine namenlose Diktatur geworden, dessen Regime einen endlosen Krieg führt: außenpolitisch gegen den Rest der Welt, innenpolitisch gegen vermeintliche Dschihadisten, die das Land mit Terror überziehen, und ökologisch gegen eine drohende Überbevölkerung. Lebensmittel und Alltagsbedarf sind dementsprechend knapp. Hinrichtungen hingegen sind alltäglich. Wer in der neuen Gesellschaftsordnung keinen Nutzen mehr erfüllt, das bedeutet: wer krank wird, begibt sich in die sogenannte Freiwillige Euthanasie. Zur Auswahl stehen Einäscherung oder Vaporisierung. In der Regel betrifft das alte Menschen, nach staatlichen Vorgaben also Menschen älter als 50 Jahre, die einem Screening zur Feststellung ihrer geistigen und körperlichen Fitness unterzogen werden. Wer an seinem Leben hängt, trotz attestierter Fitnessmängel, begeht eine Straftat.

Hier kommt die 16-jährige Florence ins Spiel. Sie ist eine RUV, eine Ruhestandsvollstreckerin, wobei Ruhestand im Jargon des Senioren-Services ein Euphemismus für Tod ist. Im Senioren-Service macht Florence mit Gleichaltrigen Jagd auf die Alten, die nicht ‚freiwillig’ gehen wollen. Zu töten — im Jargon: zu docken — ist nichts Schlimmes für sie. Dennoch zeichnet Florence eine gefährliche Fähigkeit aus, die anderen fehlt: Sie will verstehen — und folglich denkt sie viel nach, forscht nach, soweit es noch möglich ist. Wissen jedoch ist kaum zugänglich und die Überwachung allumfassend. Denn das Gros der Bücher wurde vernichtet und das Wristpad an Florences Handgelenk zeichnet alles in Ton und Bild auf.

Bei einer Mission wird Florence von ihrem Team getrennt wird, sie verliert ihr Wristpad und wird durch die Absperrung eines Straßenzuges gezwungen, in einem der letzten Londoner Kinos zu verweilen. Gelangweilt gibt sie sich dem Film hin, der gerade läuft, und widererwarten verändert sie dieses Erlebnis, dieses und die Begegnung mit Eric, der sich den Film ebenfalls angeschaut hat.

Viele gute Ideen mit aktuellen Bezügen

Philip Kerrs dystopischer Roman ist zum Verzweifeln. Vieles darin ist von der Idee her gut, aber dann so hanebüchen umgesetzt, dass man das Buch direkt weglegen möchte. Zunächst könnte man anführen, dass ein aus Jugendlichen bestehender Tötungsdienst, der die Alten abmurkst, per se zu drastisch ist und daher unglaubwürdig wirkt. Geschenkt! Denn diesem Argument wäre der aktuelle Zustand des Wohlfahrtsystems in Großbritannien entgegenzuhalten, das schon jetzt Zahlen höher bewertet als das Wohl der Bürger*innen und auf diese Weise viele menschenverachtende Praktiken hervorbringt — um das einzusehen, muss man nur einmal in Ken Loachs Spielfilm I, Daniel Blake (2016) hineinschauen, der in Cannes mit der Goldenen Palme prämiert wurde, oder in die Making-of-Doku (2021) zu diesem Film. Auch Colin Crouchs Sachbuch Die bezifferte Welt zeigt faktenbasiert, welche Auswirkungen neoliberalistisches Denken auf dem Wohlfahrtsstaat hat. Dennoch ist 1984.4 im Direktvergleich mit der Wirklichkeit fraglos zugespitzt. Durch die drastische Inszenierung wird die Gesellschaftskritik allerdings umso wirkungsvoller.

Wenn ich es mir genau überlege, fände ich eigentlich Vaporisieren ganz schön, oder was meinst du? Hat irgendwie etwas Nettes an sich, als ein Glas Leitungswasser zu enden. Ich mag Wasser. Im Großen und Ganzen glaube ich, ich finde diese Art schöner als Einäschern. Die letzte Woche war schrecklich heiß wegen der Hitze.

Durchaus gelungen ist die bedrückende und düstere Atmosphäre, die die geschilderte Dystopie aufgrund umfassender Gleichschaltung und Überwachung ausstrahlt. Anklänge an den Nationalsozialismus werden hier deutlich. Nicht zufällig wird der Senioren-Service mit SS abgekürzt. Der Einbezug aktuellen Medienumgangs stellt interessante Verbindungen zur außerliterarischen Realität her, etwa der Ich-Kanal, in den die Jugendlichen aus dem Senioren-Service ihre Gedanken und Ideen in Videoform hochladen sollen, was sie gern tun, ohne darüber nachzudenken — auch Florence, die daraufhin Ärger mit der Geheimpolizei bekommt. Zur Atmosphäre tragen à la Orwell’schem Neusprech auch die verordneten Euphemismen und Abkürzungen der Alltagssprache und des RUV-Jargons bei, die eine Verdrängung des institutionalisierten Schreckens darstellen. In dieselbe Kerbe schlagen die verwirrenden Benamsungen der Kontinente und Jahre, deren Eigenheit die Kontinuität zum Wissens- und Kultursystem der Gesellschaft vor dem Regime zerstört und das Denken erschwert. 1984.4 beispielsweise bedeutet: vierter Monat des Jahres 1984, wobei es nur noch zehn Monate im Jahr gibt. Der Monat 1984.4 ist nicht nur titelgebend, um die Referenz zu George Orwells Klassiker aufzumachen, sondern spielt zudem eine wichtige Rolle für Florences charakterliche Entwicklung.

Jetzt, nachdem die Hinrichtung vorüber war, wurde es langsam Zeit, dass sie sich trennten. Die Menge trieb allmählich auseinander. Florence wollte Eric unbedingt einen Kuss geben, traute sich aber nicht aus Angst, dass so ein ungewöhnliches Verhalten — niemand küsste bei einer Hinrichtung — auffallen könnte.

Ebenfalls in Teilen gelungen ist die Charakterzeichnung der Hauptfigur. Ihre stumpfe und brutale Art mag zuerst abstoßen, doch bald zeigt sich, wie sehr ihr Denken von klein auf indoktriniert wurde. Die Verrohung und Herkunft aus einfachem Hause merkt man ihrer Sprache an. Wenn Florence wütend wird, kommen ihr schnell Tötungsfantasien. Zugleich ist sie sehr wissbegierig, weiß aber im Grunde nur wenig, weil es kein Schulsystem mehr gibt, das ihr fundiertes Wissen vermittelt. Bücher für ein Selbststudium gibt es auch keine mehr. Mühselig bastelt sich Florence also ihre Welt aus Videos zusammen, die jedoch mehrenteils Propaganda sind. Ohne ein wissensbasiertes Fundament geraten die Menschen in Kerrs Roman in eine katastrophale Geschichtslosigkeit und werden dadurch umso manipulierbarer. Derweil denken andere, wie Florences Brüder und ihr Vater, gar nicht mehr nach und gehen voll und ganz in den kostenlosen Unterhaltungsmedien auf, deren Inhalte vor allem auf Brutalität setzen.

Besonders stark wird der Roman, wenn die Funktionsträger des Regimes das Wort ergreifen, Florences Vorgesetzte etwa, die ihre Untergebene mit doppeldenk-artigen Überlegungen traktieren. So wird etwa die Idee der Solidarität in ihr Gegenteil verkehrt, indem sie nicht mehr auf alle Menschen bezogen wird, sondern lediglich noch auf das eigene Kollektiv und darin auf diejenigen, die als nützlich gelten. Mit dem Hinweis auf diese pervertierte Form von Solidarität wird Florence zu einer moralischen Korrektheit angehalten, die eigentlich nur eine durch die Mittel der Indoktrinierung kaschierte Unmoral ist. Statt zur Stärkung des Einzelnen durch eine Stärkung der Gemeinschaft, die zusammenhält, trägt diese perfide Vorstellung von Solidarität zur Isolation und Unterdrückung des Einzelnen bei.

“So ist das nun mal mit der Wahrheit, Florence”, sagte O’Brien. “Sie ist immer im Wandel, dauerhaft flexibel. Als ich dir erzählte, dass Tony in keinem Arbeitslager sei, stimmte das. Als ich sagte, er sei anderen Aufgaben zugeteilt worden, die seinen Fähigkeiten besser entsprächen, stimmte auch das. Doch in der Zwischenzeit wurde auf höchster Ebene entschieden: Wir können und dürfen auf keinen Fall dulden, dass neue Rekruten in einer Organisation wie dem Senioren-Service solch einen ungeheuerlichen Verstoß gegen die Disziplin begehen und lautstark Kritik am Führer Hayder äußern, dessen Pflichtgefühl unübertroffen ist.”
Gute Ideen machen noch keine gute Geschichte

All dies — und noch einiges mehr — sind geniale Ansätze, auch wenn vieles bei Orwell beliehen ist. Im Gegenzug zu den Anleihen wurden diese jedoch auf interessante Weise aktualisiert. Doch gute Ideen allein machen noch keine gute Geschichte. In mehreren Hinsichten ist die Gestaltung der Dystopie zudem nicht ganz schlüssig und Florences Verhalten, obwohl sie ja um die Totalüberwachung weiß, zu sorglos. Schlimmer als das sind aber die unglaubwürdigen Dialoge. Die Gespräche wirken, als würden sich nicht Menschen, sondern Figuren unterhalten, die der Leserschaft die Erzählwelt vorstellen, erklären und moralisch einordnen wollen. Sehr befremdlich. Ebenso wie der Umstand, dass Florence und Eric sich sehr übereilt verlieben, obwohl sie einander aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse eigentlich misstrauen müssten (Stichwort: Spitzel) und dann auch noch direkt von den größten Gefühlen zu schwärmen anfangen, als wären sie Figuren aus einer Tragödie. Das ist eine von vielen allzu plötzlichen, eher unbeholfenen Figurenentwicklungen. Auch störend ist die, spitz formuliert, fragmentarische Dramaturgie. Erst wird ein Antagonist aufgebaut, dann einfach mittels plumpester Action ausradiert. Solche Handlungsfäden hätte man sich sparen können oder sie wenigstens subtiler erzählen können. Subtilität ist jedoch nicht die Stärke dieses Romans, der Figuren- und Welthintergründe einer Plakativität preisgibt, die frustriert. Holzhammermethode, sodass die Einschläge jeder mitkriegt. Die Stückwerk-Dramaturgie schließt denn auch mit einem offenen Ende, was für sich genommen in Ordnung wäre, wenn nicht so viel mehr noch hätte erzählt werden können. Quasi endet der Roman nach Etablierung der Erzählwelt mit einem kritischen Wendepunkt. Das kann funktionieren, ist in diesem Fall aber unglücklich und wirkt halbfertig.

Für wen ist der Roman? Für Erwachsene jedenfalls nicht

Vieles an der vorgebrachten Kritik lässt sich abmildern, insbesondere die Plakativität und die eher didaktischen Dialoge, wenn man überlegt, dass es sich hier um einen Roman für Kinder und Jugendliche handeln könnte. Doch als ein solcher ist das Buch vom Cover her nicht aufgemacht und wird er auch nicht in dieser Weise beworben. Deshalb musste ich aus dem Wissen, dass Philip Kerr auch Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat, auf diese Gattung rückschließen, zumal der Autor Publikationen in dieser Gattung eigentlich unter dem Pseudonym P. B. Kerr getätigt hat. Natürlich ist 1984.4 im Rahmen von Rowohlts Kinder- und Jugendprogramms veröffentlicht worden. Auch das muss man allerdings erst wissen. Nutzerkritiken im Internet zeigen, dass andere Leser*innen dieses Buches ebenfalls nicht in der Erwartung gekauft haben, ein Kinderbuch zu lesen. Zugleich ist der Roman stellenweise unnötig brutal — unnötig, insofern die inszenierte Gewalt nicht zur Intensität der Gesamtdramaturgie beiträgt und in einem Kinderbuch eher fehl am Platze erscheint. In einem Jugendbuch hingegen wäre es, gemessen an der Gewaltdarstellung anderer Geschichten für ein jugendliches Lesepublikum, wiederum in Ordnung. Für Jugendliche muss die Plakativität des Geschilderten allerdings albern wirken. Offenbar driftet die Erzählweise des Romans unentschlossen zwischen Kinder- und Jugendbuch und gibt sich zugleich den Anstrich eines Romans, der sich an Erwachsene richtet.

Philip Kerr schrieb den Roman laut Nachwort von Lektorin Christiane Steen schon 2015. Bis heute ist der Roman meinen Recherchen zufolge nicht auf Englisch erschienen. Die Veröffentlichung in deutscher Übersetzung erfolgte in diesem Jahr. Laut Christiane Steen ist das Manuskript nach Einreichen ein paar Jahre liegengeblieben, vielleicht im Giftschrank des Verlags, und wurde schließlich posthum veröffentlicht. Der Bestseller-Autor Philip Kerr, unter anderem bekannt für seine Romane Das Wittgensteinprogramm (1992) und Game Over (1996), ist 2018 mit 62 Jahren in London an Krebs verstorben.

Fazit: Lieber zu Orwells Dystopie greifen

Mit George Orwells 1984 hat sich Philip Kerr einen zu großen Bruder ausgesucht. Das Marketing aber wirkt. Ich habe sofort zugegriffen. Trotz vieler guter Ideen ist dieser Kinder- oder Jugendroman — was genau dieser Text ist, bleibt ungewiss — in weiten Teilen zu plakativ und kann nicht mit dem Referenzwerk mithalten. Erwachsene sollten daher zum Klassiker greifen. Für Kinder und Jugendliche kann 1984.4 aber schon eine interessante Lektüre sein, sofern man es erstens für richtig hält, die Darstellung von Lebenszusammenhängen für jüngere Menschen stark zu vereinfachen und zweitens sich nicht an gewalthaltigen Passagen stört.

cover19844

 

Infokasten

„1984.4“

Autor: Philip Kerr

Übersetzung: Uwe-Michael Gutzschhahn (aus dem Englischen)

Verlag: Rowohlt Verlage

320 Seiten, Hardcover mit Umschlag, Deutsche Erstausgabe eines unveröffentlichten Manuskripts in englischer Sprache

Deutschland | 2021

Erscheinungstermin: 26.01.2021 (Druck/Digital)

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amMittwoch, 07 Juli 2021 14:47
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

"Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt"

aus Hermann Hesses

Im Nebel

Cookie-Einstellungen