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Romane

„Klara und die Sonne“ – Mythisches Denken trifft Künstliche Intelligenz

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Klara ist eine Androidin und darauf programmiert, für die 13-Jährige Josie da zu sein. Als Josies Krankheit schlimmer wird, bittet Klara die Sonne um Hilfe.

Rezension

In seinem jüngsten Roman Klara und die Sonne nimmt der Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro die Perspektive einer Androidin ein, die gebaut und programmiert wurde, um die beste Freundin eines Jugendlichen zu werden – ihr Name ist Klara. Diese Ich-Erzählerin, die einerseits kindlich naiv ist, andererseits hervorragend beobachten und schlussfolgern kann, wird zur Betrachterin der menschlichen Verhältnisse in einem zukünftigen Großbritannien, vor allem aber zu Betrachterin jener Familie, von der sie im Schaufenster eines Androiden-Shops entdeckt und gekauft wird. So wird die 13-jährige Josie die eine Freundin, der Klara ihre ganze Existenz widmet.

Josie lebt mit ihrer karrierebewussten Mutter auf dem Land und ist, abgesehen von der Haushälterin Melania, meist allein zuhause. Da sie wegen ihrer Krankheit nicht zur Schule gehen kann, muss sie allein für die Tests büffeln, die über ihren Lebensweg entscheiden werden, das heißt, wenn sie sich nicht gerade so schwach fühlt, dass sie kaum mehr tun kann als schlafen. Nicht nur das Lernpensum und die Erwartungen der Mutter, auch Josies Krankheit belasten das Zusammenleben, insbesondere, weil hinter ihrem Krank sein noch etwas Größeres zu stehen scheint, das Klara entgeht. Da die Romanwelt durch die Augen der Androidin vermittelt wird, konzentriert sich das Geschehen auf das unmittelbare Familienleben, hingegen die gesellschaftlichen Umstände, in die es eingebettet ist, sind Klara weitgehend unbekannt und werden nur indirekt sichtbar. Als Josies Spielgefährtin verlässt sie das Haus kaum. Von der Außenwelt kennt Klara im Wesentlichen nur den Androiden-Shop, in dem sie gelebt hat, bevor sie gekauft wurde.

Eines Morgens zu Beginn unserer zweiten Woche im Fenster unterhielt ich mich mit Rosa über irgendetwas, das auf der Straßenseite gegenüber zu sehen war, und brach ab, als ich merkte, dass Josie vor uns auf dem Gehsteig stand. […] Sie konnte nicht zum Fenster kommen, weil ihre Mutter sich zu ihr hinuntergebeugt und eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte, während sie mit ihr redete. […] Schließlich aber richtete die Mutter sich auf, und obwohl sie mich weiter anstarrte und sogar ihre Kopfhaltung veränderte, wenn Vorübergehende ihr kurz die Sicht auf mich nahmen, ließ sie die Hand von Josies Schulter gleiten, und Josie kam mit behutsamem Gang auf mich zu.

In der Schilderung einer intensiven Mutter-Tochter-Beziehung, in der die Ich-Erzählerin mal zum geliebten Familienmitglied wird, mal zum genialen Spielzeug oder gar zum unerwünschten Fremdkörper, erweist sich Ishiguro als Meister der Andeutungen und Antäuschungen. Nach und nach zeichnen sich Abgründe in der jüngeren Familiengeschichte ab, sickert die Dystopie, die damit in Verbindung steht, in die Erzählung. Am besten weiß man vorher nichts und genießt das Spurenlesen; nur so viel: sozialer Druck zur Selbstoptimierung und Klassismus prägen das Zukunftsbild. Entsprechend aussichtslos scheinen auch die Chancen von Josies bestem Freund, dem Nachbarsjungen Rick, der zwar technisch begabt ist, sich aber um seine verwirrte Mutter kümmern muss, die sich ihrerseits nicht um sein Fortkommen bemühen kann. Anhand von Josie und Rick kontrastiert der Roman zwei Familien, die aufgrund ihrer finanziellen Lage zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten gehören und gegensätzliche Positionen zur Frage der Selbstoptimierung vertreten, beide aber von Krankheit bedroht werden. Ishiguros Spiel mit Andeutungen und Antäuschungen bleibt nicht bei der Inszenierung eines futuristischen Sozialdramas stehen, sondern mischt Anklänge von Thriller und Horror in die Erzählung, in letzterem Fall sogar von Body Horror, bei dem Klara, ohne zu verstehen, was mit ihr geschieht, eine zentrale Rolle einnimmt.

Endlich sah Josie zu mir herüber, hob aber nur rasch den Blick über die Oberkante des Skizzenblocks, und ich sah in ihren Augen einen Ausdruck, der mir völlig unbekannt war. Und wieder musste ich an die Stimme denken, die während des Interaktionsmeetings gefragt hatte, warum sich Josie keinen B3 ausgesucht habe, und daran, wie Josie lachend geantwortet hatte: „Das frag ich mich allmählich selber.“ Unterdessen hatte sie den Blick schon wieder gesenkt und zeichnete weiter. Ich rührte mich lange nicht von der Stelle. Schließlich sagte ich: „Es tut mir sehr leid, wenn ich etwas getan habe, das Josie aufgeregt hat.“

Unabhängig von diesen Erzählkniffen kann Klara und die Sonne auch wegen der angesprochenen Ich-Perspektive begeistern. Klara ist kein vernetztes Superhirn wie etwa die Androiden in Ian McEwans Maschinen wie ich (2019) oder Emma Braslavskys Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten (2019), im Gegenteil: Ishiguro schildert Klara als zerbrechliches Wesen, dessen zugrundeliegende Technologie noch Kinderkrankheiten aufweist. In neuen und komplexen Umgebungen kann Klaras Bilderkennung ins Stolpern geraten. Dann läuft sie Gefahr, ihre Orientierung ebenso wie ihr Gleichgewichtssinn zu verlieren. Durch ein Feld mit hohem, vom Wind bewegtem Gras zu marschieren, wird für sie zur unüberwindlichen Herausforderung. Dennoch würde sie es für Josie tun. Klara ist von dem Wunsch beseelt, ihrer kranken Freundin zu helfen, und denkt oft, wenn Mutter und Tochter streiten, dass sie einen Fehler gemacht hat und sich folglich noch mehr anstrengen muss.

Dann blickte ich über Ricks Kopf hinweg und sah, dass sich der Himmel in Kästchen unterschiedlicher Gestalt segmentiert hatte. Manche Kästchen glühten orange, andere rosa, wieder andere zeigten Teile des Nachthimmels, und an ihrem Rand oder in einer Ecke waren Ausschnitte des Mondes zu sehen. Während Rick sich vorwärtsbewegte, überlagerten sich die Segmente und verschoben einander […].

Da Klara mit Solarenergie funktioniert, erfährt sie schon im Schaufenster intuitiv, dass die Sonne eine positive, weil lebensspendende Kraft ist. In ihrer kindlich-naiven Vorstellungswelt, die durch ihre sehr speziellen Erfahrungen in Josies Leben und ihren eigenen Überlegungen geprägt sind, verklärt Klara die Sonne alsbald zu einer Art göttlichen Instanz, zu der sie spricht und die sie um Hilfe bittet. Es ist erstaunlich, aufregend und absolut nachvollziehbar, wie Klara von Anfang an ein mythisches Denken entwickelt, von dem man sich im Handlungsverlauf zwangläufig fragt, ob es zu Josies Genesung oder zur Katastrophe führen wird. Zugleich gelingt es Ishiguro mit Klara als Ich-Erzählerin eine glaubhafte Innenperspektive auf künstliches Bewusstsein zu schaffen, die veranschaulicht, wie eine lebensähnliche Maschine nach außen hin automatenhaft wirken und im Inneren dennoch über eine komplexe Gedanken- und sogar Gefühlswelt verfügen kann. Fraglich also, ob das vermeintlich Lebensähnliche nicht doch Lebewesen ist.

Aber ich erinnere mich gut, wie erfreut du warst, als Kaffeetassendame und Regenmantelherr einander wiederfanden. So erfreut, dass du es nicht verheimlichen konntest. Daher weiß ich, wie viel es dir bedeutet, wenn Menschen, die einander lieben, zusammenfinden, auch nach vielen Jahren. Ich weiß, dass die Sonne den Liebenden stets wohlgesinnt ist und ihnen vielleicht sogar dabei hilft, einander zu finden. Bedenke darum Josie und Rick. Sie sind noch sehr jung. Sollte Josie jetzt dahinscheiden müssen, werden sie für alle Zeit getrennt sein.
Fazit: Stell dir vor, es gibt künstliches Bewusstsein und keiner merkt es

In dem Science-Fiction-Roman Klara und die Sonne greift Kazuo Ishiguro mehrere Themen von aktueller Brisanz auf, darunter Selbstoptimierung, Klassismus und künstliches Bewusstsein, projiziert diese in eine nicht allzu ferne Zukunft und verwebt sie zu einem spannenden Sozialdrama, das von der Androidin Klara als Ich-Erzählung präsentiert wird. In Klaras kindlich-naiver Vorstellungswelt entwickelt sich ein mythisches Denken, das sie bei dem Versuch, ihrer menschlichen Freundin Josie zu helfen, zu erstaunlichem Verhalten verleitet. Zugleich entwirft Ishiguro eine berückende Innenperspektive auf künstliches Bewusstsein. Stellen Sie sich vor, es gäbe ein solches und niemand würde es bemerken geschweige denn als das, was es ist, ernstnehmen. Dann sind Sie schon sehr nahe an Klaras Schicksal.

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Infokasten

„Klara und die Sonne“ (OT: Klara and the Sun)

Autor: Kazuo Ishiguro

Übersetzung: Barbara Schaden (aus dem Englischen)

Verlag: Blessing Verlag (Penguin Random House Verlagsgruppe)

350 Seiten, Hardcover, Deutsche Erstausgabe 2021 (Druck/Digital)

Großbritannien 2021

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Letzte Änderung amSonntag, 06 Februar 2022 15:46
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Das Recht zur Kritik ist, sozusagen, ein ästhetisches Naturrecht.“

– Hugo Dinger: Dramaturgie als Wissenschaft. Bd. 1. Leipzig 1904, S. 318.

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