„The New Mutants“: Marvels Ausflug ins Horrorgenre
- geschrieben von Thomas Heuer
- Publiziert in Film
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Fünf junge Menschen werden in einer Einrichtung von der Außenwelt isoliert, untersucht und überwacht, da sie Kräfte besitzen, die sie nicht kontrollieren können.
Rezension
Dani Moonstar (Blu Hunt) lebt in einem Reservoir für nordamerikanische Ureinwohner*innen, bis eines Nachts ein ungewöhnlicher Sturm über die Siedlung hinwegfegt, bei dem alle außer ihr getötet werden. Sie selbst entkommt der Katastrophe und findet sich anschließend in einem abgeriegelten Krankenzimmer wieder, an einem ihr unbekannten Ort. Dort begegnet Dani zunächst Dr. Reyes (Alice Braga), die ihr von dem Unglück berichtet, das Dani nur knapp überlebt hat und von dem sie nicht weiß, wie sie es überlebte. Es stellt sich heraus, dass Dr. Reyes für einen Wissenschaftler arbeitet, der sich für die Entwicklung junger, talentierter Mutanten interessiert. Mutierte sind im Kontext der Marvel-Erzählwelt Menschen, die besondere Fertigkeiten entwickelt haben, und stellen eine Form von weiterentwickelten Menschen dar. Jede*r Mutant*in besitzt eine einzigartige Kraft. Neben Dani sind vier weitere Personen in dieser Einrichtung. Illyana Rasputin (Anya Taylor-Joy) ist eine vor Selbstvertrauen strotzende junge Frau, die das Leben in der Einrichtung und die Untersuchungen an den Insassen äußerst negativ sieht. Sie ist misanthrop und kommuniziert mit anderen Menschen oftmals durch eine violette Dinosaurierhandpuppe mit Namen Lockheed. Dann gibt es noch Roberto da Costa (Henry Zaga), den Sohn eines reichen Unternehmers, Sam Guthrie (Charlie Heaton), den Sohn eines Minenarbeiters, und Rahne Sinclair (Maisie Williams), die verstoßene Tochter einer zutiefst christlichen Familie.
Bereits durch die verschiedenen Hintergründe der Figuren – die nicht in derselben Art thematisiert werden wie in den Comics der New Mutants – entsteht ein konfliktgeladenes Spannungsfeld. Als dann zunehmend unerklärliche Dinge in der Einrichtung geschehen, droht die Situation endgültig zu eskalieren. Hierbei wählt Regisseur Josh Boone eine überraschend düstere Form der Inszenierung, die sich deutlich einiger inszenatorischer Mittel des Horrorgenres bedient. The New Mutants erzählt die Vorgeschichte zu der eigentlichen Comic-Reihe New Mutants von Marvel, angesiedelt in einer Zeit, bevor die potenziell starken, aber auch gefährlichen Mutanten aus den Comics Schüler von Charles Xavier sind. Dabei konzentriert sich The New Mutants auf die Vorgeschichten der Figuren, die in einem zeitgeistgemäßen Szenario eingebettet sind.
Wie zuletzt häufig in großen US-Horrorproduktionen wird auch in The New Mutants das Erwachsenwerden (Coming-of-Age) mit übernatürlichem Horror kombiniert, beispielsweise in Es und Stranger Things. Doch anders als in der Neuverfilmung von Es gibt es hier allerdings eine assoziative Vermischung von Schrecken und Heranwachsen, da ihre Mutantenkräfte die jungen Menschen überfordern und sie diese noch nicht im vollen Ausmaß kontrollieren. In der Folge sind die Figuren selbst Teil des Schreckens, sowohl für sich als auch für andere Menschen in ihrem Umfeld. Dadurch entsteht eine interessante Vermischung von typischen Superhelden-Originär-Plots und dem biologischen Wandel des Körpers und einem damit einhergehenden Wandel des Geistes eines jungen Menschen, der sich vom Kind zum Erwachsenen entwickelt. Die fünf Patient*innen der Forschungseinrichtung in The New Mutants können ihre Kräfte nicht kontrollieren, zumindest nicht in dem Maß, dass dadurch keine Gefahr für andere Menschen oder sie selbst besteht. Dies ist der zentrale Behandlungsgegenstand für Dr. Reyes. Dieses bestehende Konstrukt wird allerdings durch das Auftreten eines übernatürlichen Elements innerhalb des Erzählraumes, das diese bisher bestehende Ordnung stört, gefährdet. Folglich wird das bestehende System zunächst hinterfragt und dadurch gefährdet, was bei den gegebenen Rahmenbedingungen ein Spannungsfeld erschafft, in dem Vertrauen nur schwer möglich scheint. Entsprechend ambivalent sind die Motivationen der Figuren innerhalb des Werkes, deren Handlungen meist nachvollziehbar sind.
In einigen Passagen wird The New Mutants sehr düster, zumindest gemessen an dem, was das Publikum von Superheldenfilmen gewohnt ist. Hier wird vor allem in den Hintergründen von Rahne Sinclair und Illyana Rasputin überraschend offen thematisiert, was Gewalt und Unterdrückung durch Männer mit Kindern anstellen kann. Das wird psychologisch nicht tiefgreifend analysiert, aber es prangert zumindest gesellschaftliche Probleme an, die viel zu häufig verschwiegen werden. Bedauerlicherweise scheint es ein Leichtes für Zuschauer*innen zu sein, solche Thematiken auszublenden oder gegenüber derartigen Schrecken einfach die Augen zu verschließen.
The New Mutants wurde mehrfach verschoben, nachdem Disney seinen Konkurrenten 20th Century Fox gekauft hat. Dadurch stellt The New Mutants auch den Schlusspunkt der X-Men-Filme aus dem Hause Fox dar, denn zukünftig werden auch diese in das Marvel-Cinematic-Universe (MCU) integriert werden. Ob The New Mutants fortgesetzt wird, ist unklar. Als einer der wenigen Filme, die während der Corona-Pandemie einen Kinostart erhalten haben, hat dieser erwartungsgemäß nicht die Produktionskosten eingespielt und ein Minus von rund 20 Millionen US-Dollar hinterlassen. Außerdem erscheint eine Produktion, die sich explizit mit Kindesmisshandlung beschäftigt und diesen Missstand offen anprangert, unter der Leitung von Disney in zukünftigen Filmen unwahrscheinlich.
Regisseur Josh Boone wagt in The New Mutants einen ungewöhnlichen, vermutlich einmaligen Ausflug des X-Men-Franchise in das Horrorgenre. Atmosphärisch stimmungsvoll und mit überaus sehenswerten Performanzen der Schauspieler*innen ist The New Mutants gelungen. Für die Fans der Filme des MCU oder der bisherigen X-Men-Adaptionen aus dem Hause Fox scheint The New Mutants weniger geeignet zu sein. Für Horrorfans dürfte der Plot zu vorhersehbar und die grundsätzliche Inszenierung – vor allem in der Auflösung des Konfliktes – zu harmlos oder massenkompatibel geraten sein. Ungeachtet dieser Vorzeichen, die sich erfahrungsgemäß aus der Rezeptionshaltung heraus ergeben, ist The New Mutants ein gelungener und mutiger Film, der nicht nur gut unterhält, sondern auch einiges anbietet, über das man nach der Rezeption reflektieren kann. Aber wie bei allen künstlerischen Werken ist dies lediglich ein Angebot.
Trailer zu The New Mutants
Cover der Comicvorlagen
Marvel Graphic Novel No. 4: The New Mutants. Chris Claremont und Bob McLeod 1982.
The New Mutants No. 1. Chris Claremont und Bob McLeod März 1983.
The New Mutants: Demon Bear. Sammelband der als primäre narrative Vorlage für die Verfilmung gedient hat. Dieser enthält Wiederveröffentichungen von (in Teilen): The New Mutants # 1, #3 und #17 sowie X-Force #96-97. Primäre Autoren sind Chris Claremont, John Francis Moore, Craig Kyle und Christopher Yost. 2018.
Infokasten
„The New Mutants“
Regie: Josh Boone
Drehbuch: Josh Boone und Knate Lee
Produktion: 20th Century Studios, Kinberg Genre, Marvel Entertainment, Sunswept Entertainment, TSG Entertainment, 20th Century Fox
Verleih: 20th Century Studios, Walt Disney Studios Motion Pictures Germany (Kino), 20th Century Studios (BD und DVD)
Laufzeit: 94 Minuten (uncut)
USA | 2020
Veröffentlichung: Ab dem 21. Januar 2021 im Handel erhältlich auf DVD, Blu-ray Disc und als Video-on-Demand (Verleih und Verkauf) und im Streamingangebot von Disney+ enthalten.
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Thomas Heuer
Dr. phil. Medienwissenschaft
Forscher, Fotograf, Filmemacher, Journalist, Gamer
Forschungsfelder: Immersionsmedien, Horror, vergleichende Mediendramaturgien, Game Studies, Medienethik und -philosophie
Abschlüsse: Medienwissenschaft M. A., Multimedia Production B. A., Facharbeiter Kommunikationselektronik