log in

Comics

2. Schocktober: „Call of Wonderland“ (2012)

Empfehlung Kombination zweier Sondercover von "Call of Wonderland" Zenescope, Zeichner: Anrhony Spay Farben: Jeremy Colwell. Seite 104-105 Kombination zweier Sondercover von "Call of Wonderland"

Dieser US-Comic aus dem Verlag Zenescope ist zum einen ein Versatzstück zwischen zwei großen Wonderland-Reihen und zum anderen ein wilder Mix verschiedener Einflüsse.

Rezension und Einordnung

Handlungsüberblick

Zwei Frauen stehen im Zentrum dieser Geschichte. Ihre Pfade haben sich nie gekreuzt, doch das Schicksal sieht vor, dass ihre Wege sich treffen und ihre Welten kollidieren sollen. Julie Sands ist eine junge Studentin, die sich aus dem gesellschaftlichen Leben auf dem Campus weitgehend heraushält. Sie ist ein Bücherwurm und wirkt ein wenig wie „ein hässliches Entlein“, das aber dennoch mit einem Traumkörper ausgestattet ist, den sie auch nicht verbirgt. Julie schreibt an einer Forschungsarbeit über das Leben von H. P. Lovecraft. An diesem Abend erhält sie von einer neuen Bibliotheksmitarbeiterin ein Journal ausgehändigt, das angeblich Lovecrafts Tagebuch sein soll. Ohne Umschweife stürzt sich die Studentin auf das Werk.

Handlungszeit, Ort und Protagonist verändern sich an dieser Stelle. Fortan befindet sich das Geschehen im Leben eines siebzehnjährigen Howard Lovecraft, der – von seinen Träumen geführt – Zeuge eines Rituals wird, bei dem ein fremdartiger Schrecken aus einer anderen Welt beschworen wird. Während die Geschehnisse in Lovecrafts Tagebuch präsentiert werden, formt sich etwas fremdartiges Böses in der Bibliothek, in der Julie das Buch liest. Plötzlich wird sie von der Umgebung angegriffen. Die Flucht scheint zunächst ihre einzige Option, um zu überleben.

CoW 086 Ausschnitt

Salome Gray, die zweite Protagonistin in dieser Geschichte, befindet sich am nächsten Tag auf dem Weg zur Arbeit. Sie betreibt ein Tattoo-Studio und ist ihre eigene Chefin. Durch ein Gespräch mit einer Kundin wird deutlich, dass Salome vor einigen Jahren ihren Bruder verloren hat. Er ist einfach verschwunden und ist seit Jahren nirgends auffindbar. Die Hoffnung ist allerdings gering, denn Salomes Eltern wurden an diesem Tag auf brutale Art ermordet. Seitdem fehlt von ihrem Bruder jede Spur. Das Schicksal – oder besser gesagt eine fremde Macht, die es drauf anlegt – führt die beiden Frauen zusammen, die fortan von übernatürlichen Schrecken verfolgt werden.

Ambivalenz des Frauenbilds im Horrorgenre und bei Zenescope

Der vollständige Titel des Comics lautet Grimm Fairy Tales presents Call of Wonderland. Die Reihe umfasst insgesamt vier Comichefte und rund 100 vollfarbige Seiten. Der Illustrationsstil der Comics ist ein bekanntes Merkmal von Comics aus dem Hause Zenescope, da dieser weibliche Figuren immer als durchtrainiert und extrem aufreizend präsentiert. Dabei wirken diese Figuren aber wie starke, selbstbewusste Charaktere – zumindest meistens – die wissen, was sie vom Leben erwarten. Diese Comics gehören auch zu jenen, bei denen es besondere Cover in limitierten Versionen gibt, bei denen die eigentlich immer weiblichen Hauptfiguren mehr oder weniger lasziv abgebildet sind. Dabei gilt, je teurer der Comic, bzw. je geringer die Auflage, desto weniger bekleidet ist die Dame auf dem Deckblatt des Comics. Inhaltlich weichen die Werke stark von diesem Stil ab, präsentieren oft spannende und interessante Geschichten, die oftmals sogar mehr anbieten, als einfach nur zu unterhalten.

CoW AT Cover

Ein alternatives Cover für die letzte Ausgabe, exklusiv für die Baltimore Comic Con. Quelle: Call of Wonderland (Gesamtausgabe), Seite 112

Aus diesem Grund geht mit dem heutigen Werk auch eine gewisse Ambivalenz einher. Aus dieser ergibt sich nahezu zwangsläufig ein kleiner Exkurs zu Frauenrollen in Horrordramaturgie und Märchen, der hier nicht vollkommen ausgeblendet werden kann. Das liegt zum einen daran, dass die Macher der Serie sich intensiv mit den Stoffen befasst haben, der ihren Comicadaptionen zugrunde liegt und sich dabei auch nicht davor scheuen, mythologische Einflüsse miteinander zu verquicken. Dabei läuft es allerdings oftmals darauf hinaus, dass die Märchen, Fabeln oder andere Geschichten aus dem allgemeinen kulturellen Gedächtnis neu aufgeführt werden und dabei reinterpretiert und zudem, durch eine Anpassung von Erzählrahmen und -zeit, etwas Neuartiges geschaffen wird. Hierbei stehen oftmals junge Frauen im Mittelpunkt der Erzählungen, zumindest sind es jene Figuren, denen die Leser durch die Geschichte folgen. Zum anderen ist diese Ambivalenz darin begründet, dass Frauen in Horrorstoffen oftmals entweder ängstlich, schwach, dümmlich, sexbesessen und/oder hilflos dargestellt werden – um nur ein paar prototypische Eigenschaften zu nennen. Das ist im Comic-Universum der Grimm Fairy Tales, dem Grimm Universe, nicht der Fall. Die weiblichen Charaktere, egal ob gut oder böse, sind die starken Figuren. Sie sind selbstbewusst, intelligent, oftmals entschlossen und weitgehend furchtlos. Das sind jetzt komplette Verallgemeinerungen, aber es deutet an, wie sich die Frauenrollen im Grimm Universe von jenen innerhalb anderer Horrormedieninhalte unterscheiden. Hierbei hat mittlerweile zwar ebenfalls ein deutliches Umdenken stattgefunden und viele moderne Horrorwerke präsentieren starke und ambivalente weibliche Charaktere, aber selten sind diese so tough wie die Frauen in diesen Comics.

Auf einer visuellen Ebene lässt sich den Comics von Zenescope allerdings vorwerfen, dass es sich hierbei um eine Darstellung von Frauen handelt, die rein zum Zweck der Lustbefriedigung des Mannes gewählt wird. Dies wäre ganz grob eine feministische Lesart des Frauenbildes, nicht des Charakters der weiblichen Figuren in der Geschichte. Die Frauen werden sexy dargestellt, aber nicht durchweg. Sie sind sportlich, selbstbewusst, attraktiv und haben keine Angst davor, sich auch gegen Männer zur Wehr zu setzen.

CoW Emanzipiert

Salome im Gespräch mit einem Mann. Quelle: Call of Wonderland (Gesamtausgabe), Seite 31

Die Figuren sind somit jene selbstbewussten Frauen, die selbst entscheiden, einen eigenen Willen besitzen und aus sich heraus handeln können und nicht einfach nur existieren, um als „eye candy“ zu fungieren. In dieser Deutung sind die Comics von Zenescope tatsächlich selbst als feministisch geprägte Werke deutbar, da in diesen die Frau nicht auf ihre körperlichen Reize reduziert wird und eben nicht tut, was andere erwarten. In diesem Kontext kann man von einem emanzipierten Frauenbild sprechen, das allerdings – besonders in einigen Panels – sehr deutlich auf die weiblichen Reize der Figuren hin konzipiert ist und sich somit selbst untergräbt.

Auf dieser Ebene sollen die Comics auf der visuellen Seite eben auch eine bestimmte Wirkung erzielen, diese ist intendiert von den Künstlern, die hinter dem Comic stehen und es steht niemandem ein Urteil zu, was in diesem Kontext richtig oder falsch ist. Dennoch sollte man sich bei der Rezeption immer mal selbst beobachten und die eigene Wahrnehmung überprüfen und hinterfragen. Die Ästhetik des Werkes ist allerdings recht erfolgreich, den im US-Comic finden sich viele Serien, in denen Frauen stark sexualisiert präsentiert wirken. Dieses Phänomen findet sich beispielsweise ebenfalls in Comics der Serien Witchblade, Tomb Raider, The Darkness und selbst in einigen Aliens-Comics.

Aber auch hier ist eine gewisse Ambivalenz notwendig, so kann Nacktheit oder annähernde Nacktheit einer Figur auch die Verletzlichkeit der Persönlichkeit in einer inszenierten Situation verstärken. Hierfür findet sich sowohl im vorliegenden Werk ein Panel zum Beleg als auch beispielsweise in Neonomicon von Alan Moore.

CoW Verletzlichkeit

Quelle: Call of Wonderland (Gesamtausgabe), Seite 33

Während in Call of Wonderland eine junge Frau ihr Selbstbewusstsein durch eine Tätowierung aufgewertet fühlt und in der Folge ihre Verletzlichkeit überwindet, multipliziert in Neonomicon die Nacktheit die Verletzlichkeit. In Call of Wonderland ist dieses inszenatorische Mittel allerdings nur eine Randnotiz, bevor die von H. P. Lovecrafts Werken inspirierte Tätowierung sich als ein kosmischer Schrecken manifestiert und die Frau sich selbst in ein unbeschreibliches Monster verwandelt.

In Neonomicon wird eine Frau damit konfrontiert, dass sie einem nichtmenschlichen Wesen als Sexsklavin vorgesetzt wird – vollkommen unfreiwillig. Das nachstehende Bild verdeutlicht welche Schrecken sich im Gesicht dieser Frau spiegeln. Verstärkt wird dieser Effekt durch die vollkommen wehrlose und schutzlose Situation, in der sich die Frau befindet. Der Vorgang endet in einer mehrtägigen Vergewaltigung und Schändung der Frau durch die Kreatur. Dies ist der düstere Wendepunkt in Neonomicon, der den Ausgang der Erzählung maßgeblich beeinflusst.

Neonomicon Beispiel

Quelle: Neonomicon #3 Seite 14

Mythenmix als Qualitätsmerkmal

Auf mehreren Erzählebenen und in einer komplexen Vermischung verschiedener Stoffe entsteht hier ein Mythenbastard erster Güte. Das Versatzstück zwischen zwei großen Wonderland-Reihen vermischt Alice im Wunderland mit verschiedenen Einflüssen aus Werken H. P. Lovecrafts und etabliert dabei den populären Autor selbst als eine tragische Figur in einem Spiel höherer Mächte. Hätte man lediglich die einzelnen Themen miteinander kombiniert, dann passen die Stoffe nicht wirklich zueinander. Durch die feinsinnige Verknüpfung einzelner Elemente des Cthulhu-Mythos und düsterer Legenden, die dem Wunderland entstammen, gelingt es hier allerdings eine nicht nur funktionale, sondern auch nachvollziehbare Vermischung der beiden Themenkomplexe herzustellen. Das Ende ist allerdings etwas abrupt, was aber auch darin begründet sein dürfte, dass es sich um einen Appetizer für die „Wonderland“-Reihe handelt und somit recht offen mit einem Cliff-Hanger endet. Bis dahin liefert das Werk allerdings unterhaltsamen Horror, dem das Kunststück gelingt, nicht überladen oder kitschig zu werden, trotz aller verwendeten Motive und spürbaren Einflüsse. Tatsächlich wirkt Call of Wonderland recht eigenständig.

Fazit

Man soll ein Buch nicht nach seinem Einband bewerten. Das gilt insbesondre für die Comics des Grimm Universe, die immer wieder durch tiefgreifende Kenntnis von Ursprungsstoffen und ein ambivalenteres Figurenbild weiblicher Charaktere (als die Cover der Comics andeuten) überraschen. Dieser Comic verbindet gleich zwei zentrale Inspirationsquellen der Horror-Populärkultur miteinander und vermischt diese zu einem unterhaltsamen und klug erzählten Werk des Horrors. Hier trifft Lovecraft auf Alice im Wunderland, in einer düsteren Ausdeutung.

Infokasten

„Call of Wonderland“

Autor: Dan Wickline

Story: Dan Wickline, Raven Gregory, Joe Brusha, Ralph Tedesco

Zeichnungen: Matt Triano, Nacho Arranz

Farben: Stephen Downer, Thomas Bonvillain

Lettering: Jim Campbell

Verlag: Zenescope

USA | 2012

Veröffentlichung: Das Werk ist als Sammelband in englischer Sprache im Handel erhältlich.

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amMittwoch, 02 Oktober 2019 17:45
Thomas Heuer

Dr. phil. Medienwissenschaft

Forscher, Fotograf, Filmemacher, Journalist, Gamer

Forschungsfelder: Immersionsmedien, Horror, vergleichende Mediendramaturgien, Game Studies, Medienethik und -philosophie

Abschlüsse: Medienwissenschaft M. A., Multimedia Production B. A., Facharbeiter Kommunikationselektronik

Unter anderem auch das . . .

„Thought flows in terms of stories – stories about events, stories about people, and stories about intentions and achievements. The best teachers are the best storytellers. We learn in the form of stories.“

– Frank Smith

Cookie-Einstellungen