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„Kandisha“ (2020) versus „Candymans Fluch“ (1992). Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Filmszene (Ausschnitt) Delphine Clot Filmszene (Ausschnitt)

Bei der Sichtung von Candymans Fluch (1992) ist mir aufgefallen, wie viele Parallelen dieser Film zu Kandisha (2020) von Filmer-Duo Bustillo / Maury aufweist.

Vergleichende Betrachtung (Skizze mit Spoilern)

Jüngst konnte ich auf der Stuttgarter Ausgabe der Fantasy Filmfest Nights XL den zweitneuesten Film des für gute Horrorfilme bekannten Regie- und Autorenduos Alexandre Bustillo und Julien Maury sehen und besprechen: den Slasher Kandisha, der schon 2020 fertiggestellt war, aber erst im Juni dieses Jahres veröffentlicht wurde. Als ich daraufhin den Horrorkultklassiker Candymans Fluch (1992, OT: Candyman)[i] für unser Candyman-Spezial gesichtet habe, sind mir die bemerkenswerten Parallelen zwischen diesem und Kandisha aufgefallen. Aber nicht nur das, auch im Kontext des aktuellen Candyman (2021) von Nia DaCosta ist der französische Slasher von Bustillo und Maury interessant. Beide Filme – Kandisha und der neue Candyman – aktualisieren und variieren den Candyman-Erzählstoff auf ihre Weise. Kandisha ist natürlich ein eigenständiger Film, aber da die strukturellen Ähnlichkeiten so auffällig sind, gehe ich davon aus, dass Candymans Fluch den Filmemachern als Inspiration gedient hat, wenn nicht sogar als Vorlage. Für den aktuellen Candyman ist die Ausgangslage anders. Als Neuadaption und Sequel hat der Film notwendigerweise starke Bezüge zu Candymans Fluch, er funktioniert aber durch die Art, wie er erzählt wird, auch alleinstehend (mehr dazu in der Besprechung zu Candyman (2021)).

Für Alexandre Bustillo und Julien Maury könnte die Handlung von Candymans Fluch also als erzählerisches Grundgerüst gedient haben, das sie für Kandisha modernisierten, um einen zeitgemäßen Slasher zu inszenieren. Diesen spekulativen Zusammenhang möchte ich plausibilisieren, indem ich zunächst sechs Gemeinsamkeiten von Kandisha und Candymans Fluch anführe. Anschließend bespreche ich die Unterschiede, die ich als Neuerungen oder Variationen betrachte, mit denen der Erzählstoff für ein neues Publikum aktualisiert wurde. Doch zuallererst: Worum geht es in diesen Filmen überhaupt? Eine kurze Zusammenfassung für diejenigen, die weder den einen noch den anderen Film kennen (beide sind im Übrigen sehenswert):

In Candymans Fluch recherchiert Helen Lyle (Virginia Madsen) die Hintergründe einer urbanen Legende und beschwört schließlich aus Unglauben eine Art Dämon oder Rachegeist herauf, den Candyman, um den sich die Großstadtlegende[ii] dreht. Ab diesen Zeitpunkt muss Helen alles daransetzen, nicht von dem Candyman getötet zu werden – andere Menschen fallen dem Mörder mit der Hakenhand dennoch zum Opfer. Ähnlich geht es in Kandisha zu. Hier dreht sich die Handlung um die drei jugendlichen Frauen Bintou (Suzy Bemba), Morjana (Samarcande Saadi) und Amélie (Mathilde Lamusse), die ihre Sommerferien in den Pariser Banlieues verbringen. Amélie, die von ihrem Exfreund verprügelt wird, beschwört aus Wut und Schmerz Aicha Kandisha, die eine Art Rachegeist ist, der ausschließlich Männer tötet. Kaum ist es um den Exfreund geschehen, muss Amélie mitansehen, wie weitere Männer in ihrem Umfeld – Freunde, Väter, Brüder – in Gefahr geraten und getötet werden, wenn sie Aicha Kandisha nicht wieder loswerden kann.

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Helen auf dem Weg nach Cabrini-Green.

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Bintou, Morjana und Amélie betrachten ihr Graffiti.

Gemeinsamkeiten von Kandisha und Candymans Fluch

Zunächst folgen die Gemeinsamkeiten, die sich ja bereits in der Zusammenfassung andeuten. Erstens: In beiden Filmen spielen urbane Rand- bzw. Problemgegenden eine zentrale Rolle. Kandisha spielt in den Pariser Banlieues, für Candymans Fluch ist ein explizit als Ghetto bezeichnetes Viertel wichtig. Zweitens: In beiden Filmen gibt es innerhalb dieser Gegenden jeweils ein wichtiges, dem Verfall überlassenes Gebäude, in Kandisha ein einsturzgefährdetes, daher abgesperrtes Hochhaus, in Candymans Fluch ein heruntergekommener Wohnkomplex innerhalb des Chicagoer Wohnprojekts Cabrini-Green. Drittens: Für das Erscheinungsbild der Innenräume, die in diesen Gebäuden gezeigt werden, sind in beiden Filmen Graffiti maßgeblich. Graffiti haben in Kandisha und Candymans Fluch allerdings unterschiedliche Funktionen, dazu weiter unten mehr. Viertens: Das Hochhaus und der Wohnkomplex sind jeweils der Ort, der mit der für die Handlung essenziellen Großstadtlegende verknüpft ist. Fünftens: In beiden Filmen gibt es eine urbane Legende über ein ehemals menschliches, jetzt verfluchtes und dämonenartiges Wesen, das durch andere Menschen misshandelt und getötet wurde. Ebendieses Wesen wird in beiden Filmen beschworen und stellt, da es daraufhin Menschen tötet und auch das Leben der Hauptfigur bedroht, den Antagonisten dar. Der Showdown mit diesem Antagonisten findet in dem für den Film jeweils wichtigen Gebäude statt, in Kandisha in dem Hochhaus, das zuletzt gesprengt wird, in Candymans Fluch in dem Wohnkomplex in dem Wohnprojekt Cabrini-Green, dessen Schicksal erst in der Neuadaption geklärt wird. Schließlich sechstens: In beiden Filmen muss die Hauptfigur sterben und den Platz des beschworenen Wesens einnehmen.

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 Cabrini-Green aus der Vogelperspektive

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In der Ferne ist das Hochhaus mit dem Versteck der drei jungen Frauen zu sehen.

Unterschiede zwischen Kandisha und Candymans Fluch

Kandisha unterscheidet sich von Candymans Fluch sehr klar in der Perspektive, aus der erzählt wird. War es in letzterem noch eine weiße Akademikerin, die in ein ihr fremdes und bedrohlich inszeniertes soziales Milieu eintaucht, so sind die Hauptfiguren in Kandisha jetzt aus dem Milieu selbst. Dadurch wird in Kandisha nicht von oben herab über Leute erzählt, sondern aus deren Mitte und an diese adressiert. Zudem gibt es zwar nach wie vor eine primäre Hauptfigur, aber eigentlich dreht sich die Geschichte um drei jugendliche Frauen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Hautfarben. Kandisha richtet sich demnach an ein jüngeres und diverseres Publikum, das seine Sorgen und Nöte, kurz: seine Lebensumwelt, in einem zeitgemäßen Slasher gespiegelt sehen möchte. Die Banlieues werden daher nicht wie das ‚Ghetto‘ in Candymans Fluch einseitig als verwahrlost, kriminell und gefährlich dargestellt. Das gibt es zwar auch in den Banlieues, aber daneben gibt es auch viel Positives: Partys mit Lagerfeuer im urbanen Raum, wunderschöne Ausblicke von den Dächern der Plattenbauten, Zusammenhalt, Freundschaft, Diversität und die Abwesenheit von Rassismus.

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Chillen im Sonnenschein auf dem Plattenbaudach

Dementsprechend kommt den oben angeführten Gebäuden und mit ihnen den Graffiti eine andere Rolle zu. In Candymans Fluch ist der Wohnkomplex in Cabrini-Green ein gefährlicher, unwirtlicher Ort, den die Hauptfigur Helen lieber nicht aufsuchen würde. Die Graffiti sind einerseits Teil dieser negativen Präsentation, andererseits bringen sie den Entstehungsmythos des Candyman zum Ausdruck. Durch sie tradiert sich die urbane Legende. Interessant ist, dass ein besonders großes Graffiti, das eher wie eine Wandmalerei aussieht, den Candyman selbst darstellt. Dieses Graffiti wird die ganze Filmhandlung über eine düstere Sogwirkung auf die Hauptfigur Helen ausüben und gehört zur Inszenierung der Bedrohlichkeit, die der Antagonist ausstrahlt.

In Kandisha wiederum ist das abrissreife Hochhaus ein Zufluchtsort für die drei jungen Frauen, wo sie ihre Ruhe vor der Welt der Erwachsenen haben. Innerhalb des Hochhauses haben sie ein Versteck eingerichtet, in dem sie sich künstlerisch betätigen. Graffiti wird hier zum Ausdruck eines Lebensgefühls und verliert jede Bedrohlichkeit. Auch in Kandisha weist ein Graffiti auf die urbane Legende hin, allerdings ist es hier nur ein kunstvoller Schriftzug, der das Gespräch der drei Frauen auf die titelgebende Dämonin Aicha Kandisha lenkt. Graffiti dient in Kandisha somit allein der Charakterisierung der Protagonistinnen und nicht der antagonistischen Figur. Ebenso ist das Verfallene der Architektur nicht per se minderwertig und abschreckend, sondern birgt Räume für eine subversive urbane Lebensgestaltung.

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Graffiti in Kandisha 

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Graffiti in Candymans Fluch

Am Rande erwähnt sei, dass Kandisha die Einnahme einer Perspektive von vorher ausgeschlossenen oder an den Rand gedrängten Gruppen mit dem aktuellen Candyman verbindet. Die Neuadaption von Nia DaCosta wählt allerdings einen anderen Weg und zeigt nicht etwa Cabrini-Green aus der Sicht der schwarzen Menschen, die dort leben, es lokalisiert das überwiegend schwarze Figurenensemble gleich in einer anderen Gesellschaftsschicht und bricht so mit dem Klischee, dass schwarze Personen in sozialschwachen Wohnvierteln leben. Cabrini-Green wird dagegen als verlassen gezeigt. In Rückblenden war es noch belebt, in der Gegenwart des Filmgeschehens wohnt dort niemand mehr. Das zeigt, dass sich in der Erzählwelt des Films etwas getan hat und das spiegelt natürlich auch die außerfiktionale Wirklichkeit in den USA. Cabrini-Green ist kein für die Filmhandlung erfundener, sondern ein realer Ort in Chicago, der früher wegen seiner schlechten Lebensbedingungen aufgrund von Kriminalität berüchtigt war (Wikipedia.org, URL-1, siehe unten).

Candyman versus Aicha Kandisha

Weitere bedeutende Unterschiede sind bei der Ausgestaltung der urbanen Legenden festzustellen, die für die Filme die zentralen mythischen Geschichten sind. Sie erklären, woher die jeweilige antagonistische Figur kommt. In Candymans Fluch ist dies eine für den Film geschaffene Legende. Sie erzählt von einem schwarzen Mann, der wegen seiner Liebe zu einer weißen Frau brutal gefoltert und ermordet wird. Eine zutiefst rassistisch motivierte Untat hat hier den Candyman erschaffen.

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Aicha Kandisha holt sich ihr Opfer.

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 Candymans Hakenhand ist noch feucht vom Blut des letzten Opfers.

In Kandisha geht es dagegen nicht um Rassismus, der für die jungen Leute in den Banlieues kein Problem zu sein scheint, da sie, so zeigt sie zumindest der Film, gegenüber allen Hautfarben und kulturellen Hintergründe gleichermaßen offen sind. Ein Problem dagegen ist Misogynie, was sich an dem Verhalten von Amélies Exfreund zeigt. Misogynie ist hier nicht verengend als krankhafter Frauenhass zu verstehen, sondern weiter gefasst als „eine Vielzahl von psychosozialen Phänomenen der Herstellung sozialer Ungleichheit über die Kategorie Geschlecht bzw. Gender“ (Wikipedia.de, URL-2, siehe unten). Zwar zeigt der Film, dass Amélies Exfreund mit seiner Handlungsweise nicht glücklich ist, dennoch ist er der Verursacher der Gewalt, die sich aus der Vorstellung legitimiert, dass Frauen weniger wert sind – anders wäre nicht zu erklären, weshalb er ihr nachstellt und sie sogar schlägt. Er muss der Ansicht sein, dass seine Gefühle wichtiger sind als die von Amélie.

Auch in dem Entstehungsmythos der Antagonistin Aicha Kandisha spielt Gewalt gegen Frauen durch Männer eine zentrale Rolle. Allerdings ist die Motivation der Missetäter nicht so klar. In dem Mythos geht es um eine marokkanische Frau, deren Ehemann von den Portugiesen getötet wurde. Vermutlich in der Zeit nach 1415, als Portugal nach Marokko expandierte und dort für lange Zeit präsent war (Wikipedia.de, URL-3, siehe unten). Gesagt wird das im Film allerdings nicht. Aus Rache tötet Aicha Kandisha im Gegenzug viele portugiesische Soldaten, bis sie schließlich von sechs Gefolgsleuten der Portugiesen gefangen und zu Tode gefoltert wird. Anders als Candymans Entstehungsmythos ist der von Aicha Kandisha allerdings keiner, der extra für den Film erdacht wurde. Er basiert auf der marokkanische Legende von Aisha Quandisha, die je nach Überlieferung ein Dschinn, Dämon oder Rachegeist ist, der Männer tötet. Daneben gibt es auch Geschichten aus dem Volksmund, die von einer menschlichen Aisha Quandisha erzählen. In Kandisha laufen beide Versionen zusammen, denn die Seele der zu Tode Gefolterten verbindet sich hier mit einem Dschinn oder Dämon (im Film wird das gleichgesetzt). Fortan, wenn Aicha Kandisha beschworen wird, tötet sie sechs Männer. Die Motivation der Folterer wird in der sehr knappen Schilderung des Entstehungsmythos nicht erwähnt. Sie können aus Misogynie gehandelt haben, aus Rache für ihre gefallenen Kameraden oder aus beidem. Unbestreitbar ist, dass Aicha Kandisha extreme Gewalt durch Männer erfahren hat. Gewalt gegen Frauen ist ein zentrales Hintergrundmotiv in Kandisha, das die Handlung in Gang setzt und sie am Laufen hält – auch wenn die gezeigte Gewalt sich vornehmlich gegen Männer richtet.

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Aicha Kandisha tötet. Im Hintergrund sieht man den Dämon, der mit ihrer Seele verschmolzen ist.

Die Entstehungsmythen in Kandisha und Candymans Fluch sind sich also strukturell ähnlich, denn in beiden geht es um ein Individuum aus einer diskriminierten Gruppe (Schwarze Menschen und Marokkaner/Frauen), das von Vertretern der herrschenden Gruppe (Weiße und Portugiesen) misshandelt und ermordet wurde, sodass es als dämonisches Wesen wiederkehrt. Die Antagonist*innen, die von diesen Untaten hervorgebracht wurden, unterscheiden sich jedoch stark. Der Candyman ist ein männlicher Dämon, der seiner Beschwörerin nachstellt. Von ihr verlangt er, dass sie sich ihm opfert. Er bedrängt sie so lange mit seinen übernatürlichen Kräften und tötet so lange Menschen in ihrem Umfeld, bis sie nahezu wahnsinnig wird und nachgibt. Dennoch tut sie das letztlich nur, um ein Baby zu retten, das er entführt hat. Der Candyman ist also, wenn man so will, ein misogyner Stalker, der nicht einmal vor Kindesentführung zurückschreckt. Von einem Rachegedanken, der aus seiner Entstehungsgeschichte hervorgehen könnte, ist hier keine Spur. Ganz anders bei Aicha Kandisha: Sie ist ein weiblicher Dämon, der, nachdem er gerufen wurde, sechs Männer im Umfeld seiner Beschwörerin tötet, nicht nur denjenigen, dessentwegen er gerufen wurde. Während der Candyman wie ein Triebtäter erscheint (mehr dazu in der Besprechung zu Candymans Fluch), ist Aicha Kandisha ganz klar eine Rachedämonin, die allerdings kein bisschen nobel ist, im Gegenteil: sie ist so sehr von Rachegefühlen zerfressen, dass sie sich am Ende sogar gegen die Beschwörerin wendet.

Dass eine enge Verbindung zwischen Kandisha und Candymans Fluch besteht, legt auch eine direkte Referenz nahe, denn relativ zu Beginn von Kandisha wird die für den Candyman typische Beschwörungsformel genannt und ausprobiert – nicht zufällig von Bintou, die eine schwarze Frau ist. Noch im baufälligen Hochhaus greift sich Bintou eine Spiegelscherbe und spiegelt sich und ihre zwei Freundinnen darin, während sie fünfmal Aicha Kandishas Namen sagt. Das Ganze erweist sich als unwirksam und ist Teil eines Witzes zwischen den Frauen, die die Rachedämonin da noch nicht ernst nehmen. Zugleich ist das ein klarer Verweis auf Candymans Fluch. Wäre auch verwunderlich, würden Bustillo und Maury den Film nicht kennen.

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 Bintou hält eine Spiegelscherbe hoch und sagt mehrmals den Namen Aicha Kandisha.

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Helen und ihre Freundin Bernadette (Kasi Lemmons) beim Aussprechen der Beschwörungsformel

Wo Bustillos und Maurys Kandisha schwächelt

Durch den aktuellen Candyman von Nia DaCosta erfährt Candymans Motivation ein Update, das ihn endlich zu dem Rachedämon macht, der er seinem Entstehungsmythos nach von Anfang an hätte sein müssen (mehr dazu in der Besprechung zu Candyman (2021)). Zudem schafft es die Neuadaption, die Hintergrundgeschichte des Dämons so neu zu justieren, dass man mit seinem Schicksal mitfühlen kann. Erste Ansätze dafür liefert auch schon die erste Fortsetzung Candyman: Farewell to the Flesh. In Candymans Fluch war eine empathische Haltung aufgrund der widersprüchlichen Gestaltung des Candymans noch nicht möglich (mehr dazu in der Besprechung zu Candymans Fluch). In Kandisha ist das leider ähnlich, wie ich in einer Kurzrezension schon dargelegt habe. Aicha Kandisha als Antagonistin ist, obwohl spannend in Szene gesetzt, eher eine Naturgewalt als eine Person, mit deren Schicksal man mitfühlen könnte. Hätte man das gekonnt, hätte das einen inneren Konflikt beim Publikum bewirken können. James-Bond-Antagonisten, die in Erinnerung bleiben, leben von solch einer Ambivalenz. Man kann sie nachvollziehen, aber letztlich tun sie doch das Böse. Damit das auch in Kandisha funktioniert hätte, hätte man aus meiner Sicht nur an wenigen Stellschrauben drehen müssen.

Fazit: Kandisha als Aktualisierung und kulturelle Übertragung

Diese vergleichende Betrachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zwei Filme Kandisha und Candymans Fluch ist nicht abschließend, eher eine Skizze. Wie immer ließe sich noch sehr viel mehr schreiben, unter anderem darüber, wie sich die Enden der beiden Filme unterscheiden. Zu Erinnerung: In beiden Filmen müssen die Protagonistinnen am Ende sterben, um den Fluch zu lösen. Der Kontext dürfte aber jeweils ein ganz anderer sein. Dennoch, die bis hierhin geschilderten Parallelen und Verbindungen erscheinen mir als so auffallend, dass ich mir sehr gut vorstellen kann, wie Alexandre Bustillo und Julien Maury sich für ihren Slasher in den Pariser Banlieues von dem Klassiker aus dem Jahr 1992 haben inspirieren lassen. Zugleich aktualisieren die Filmemacher, was sie von Candymans Fluch für ihren Film nutzen, indem sie es sich kulturell aneignen. Dazu übertragen sie die Geschichte aus einem Chicagoer Ghetto in die Vororte der französischen Hauptstadt und geben dem Ganzen eine zeitgemäße Perspektive – nicht von oben herab, sondern von innen aus dem Milieu heraus. Weiterhin passen sie das gesellschaftskritische Thema bzw. Hintergrundmotiv des Films dem neuen Setting an. Statt um Rassismus geht es nun um Misogynie. Als Teil der Übertragung suchen Bustillo und Maury einen neuen und unverbrauchten Mythos, der zur Neuverortung in den Banlieues passt, und finden die marokkanische Legende von Aicha Quandisha. Damit macht das Duo, was zuvor schon die Produzenten von Candymans Fluch gemacht haben. In der Kurzgeschichte The Forbidden (1985) von Clive Barker, die dem Film zugrunde liegt, spielt die Geschichte noch in England und Rassismus ist darin kein Thema. Erst die Verfilmung versetzt die Handlung in die USA und erschafft Candyman als schwarze Horrorikone neu. Auch das ist eine kulturelle Übertragung.

 

Endnoten

[i] Damit sich die Verfilmung von 1992 (Candyman) sprachlich leichter von der 2021er Adaption des Erzählstoffes (ebenfalls Candyman) unterscheiden lässt, verwende ich hier weiterhin den deutschen Titel Candymans Fluch.

[ii] Großstadtlegende und urbane Legende verwende ich nachfolgend als Synonyme.

 

Filmografie

Candyman, 1992, Regie: Bernard Rose, USA (Deutscher Titel: Candymans Fluch).

Candyman, 2021, Regie: Nia DaCosta, USA, Kanada, Australien.

Candyman: Farewell to the Flesh, 1995, Regie: Bill Condon, USA, Großbritannien (Deutscher Titel: Candyman 2 - Die Blutrache).

Kandisha, 2020, Regie: Alexandre Bustillo, Julien Maury, Frankreich.

Literatur

Clive Barker: The Forbidden. In: Ders.: Books of Blood. Volume 4-6 (Second Omnibus). Erstveröffentlichung von Sphere Book Ltd. 1985. Wiederaufgelegt von Sphere 2007. London.

Links

Für die einzelnen URLs wurde kein Zugriffsdatum angegeben, da ihre Zugänglichkeit insgesamt im Oktober 2021 überprüft wurde.

URL-1: Cabrini-Green Homes [Art.] In: Wikipedia. Link: https://en.wikipedia.org/wiki/Cabrini%E2%80%93Green_Homes.

URL-2: Misogynie [Art.] In: Wikipedia. Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Misogynie#Wortherkunft.

URL-2: Marokkanisch-portugiesische Beziehungen [Art.] In: Wikipedia. Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Marokkanisch-portugiesische_Beziehungen#1415_bis_1769.

 

Dieser Text ist Teil des Candyman-Themenspezials:

candyman spezial 8Nachbesprechung zu „Candyman“

Anlässlich der meisterhaften Neuadaption des Horrorkultklassikers Candymans Fluch (1992) besprechen wir Neuauflage, Originalfilm und die literarische Vorlage.

 

 

Infokasten

„Kandisha“

Regie: Alexandre Bustillo, Julien Maury

Drehbuch: Alexandre Bustillo, Julien Maury

Laufzeit: 85 Minuten

Produzent: Delphine Clot

Verleih: Tiberius Film

Frankreich | 2020

Veröffentlichung: Für Deutschland unklar zum Zeitpunkt dieses Artikels. In den USA ist der Film bei dem Streaming-Dienst Shudder veröffentlicht worden.

 

„Candymans Fluch“ (OT: Candyman)

Regie: Bernard Rose

Drehbuch: Bernard Rose

Literaturvorlage: Clive Barker (The Forbidden, 1985)

Laufzeit: 99 Minuten

Produzent: PolyGram Filmed Entertainment, Propaganda Films, Candyman Films

Verleih: Turbine Medien (seit 2020; Blu-Ray),

USA, Großbritannien | 1992 (in Deutschland: Januar 1993)

Bildrechte: Die Bilder dieses Artikels sind Ausschnitte aus dem besprochenen Medieninhalt. Deren Rechteinhaber können Sie dieser Infobox entnehmen.

Letzte Änderung amSamstag, 16 Oktober 2021 08:09
André Vollmer

Schriftsteller. Forscher. Phantast. Am Meer geboren. Gründer von Mellowdramatix.

Unter anderem auch das . . .

„Unbestreitbar führt das Internet auch zu positiven Veränderungen. Das Negative besteht meiner Meinung nach darin, dass das Internet zu Oberflächlichkeit verleitet, zu spontanen Reaktionen, hinter denen kein langes Nachdenken steckt: Ich habe etwas gelesen, und sofort twittere ich dagegen oder darüber, und dann womöglich auch noch in falscher Grammatik.“

 

Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo (2012) im Zeit Magazin Nr. 17 vom 19.04.2012, S. 57

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